Sophia Andreotti

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Der Boom der positiven Erziehung


mardi 03 novembre 2015
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Frankreich entdeckt die antiautoritäre "positive Erziehung" für sich. Durch Blogs, soziale Netzwerke und neue Erziehungsbücher wollen die französischen Eltern die Erziehung ihrer Kinder neu erfinden. Ihr Mantra? Eine wohlwollende Richtlinie, die auf die individuelle Entwicklung des Kindes achtet.



Ich wurde von einer deutschen Mutter in Frankreich erzogen. Zu Hause sprachen wir kein Deutsch, es gab keine deutschen Kinderlieder und keinen Winnetou. Dafür aber leckere französische Küche. Was meine Mutter aber aus ihrem Heimatland mitgebracht hatte und täglich umsetzte, war die antiautoritäre Erziehung, die sich im Zuge der 68er- Bewegung in Deutschland verbreitet hatte. Das unterschied mich deutlich von meinen Schulkameraden. Ich ging erst mit vier Jahren in die "école maternelle". Die gute alte "fessée", den Klaps auf den Hintern, über den meine kleinen Freunde jammerten, war mir gänzlich unbekannt. Und natürlich war meine Mutter an meiner Schule bekannt wie ein bunter Hund: Jedes Jahr ließ sie sich zur Elternsprecherin wählen und war jederzeit bereit, an vorderster Front für ihre Erziehungsideale zu kämpfen. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag in der Grundschule, an dem die ganze Klasse aus irgendeinem Grund kollektiv bestraft wurde. "Keiner darf in die Pause gehen", sagte meine Lehrerin damals, "bis auf Sophia!". Kurz zuvor hatte meine Mutter eine lebhafte Diskussion mit ihr gehabt: "Sie sind vielleicht von der Wirksamkeit dieser veralteten Kollektivstrafen überzeugt. MEINE Tochter darf aber auf keinen Fall bestraft werden, sonst hören Sie von mir!" So ganz allein auf dem Schulhof dauerte die Pause ewig und ich fand oft, dass die Reaktionen meiner Mutter etwas übertrieben waren. Im Nachhinein muss ich aber zugeben, dass ich ihr trotzdem dankbar bin. Dass jedes Kind in Frankreich eine "positive Erziehung" genießen solle, die auf die Prügelstrafe verzichtet und sich an den Bedürfnissen des Kindes orientiert, findet auch Catherine Dumonteil-Kremer. Die 53-Jährige mit dem leichten südfranzösischen Akzent hat drei Kinder und vier Stiefkinder und ist inzwischen Expertin auf dem Gebiet. Vor drei Jahren hat die frühere Sozialarbeiterin ein Magazin gegründet: das Peps - Le magazine de la parentalité positive soll Eltern dabei helfen, verständnisvoller mit ihren Kindern umzugehen. Auf Sonderseiten zu speziellen Themen erfährt man zum Beispiel, dass "Kinder oft keine 'Dummheiten' machen", sondern dass "ihre Taten Nachrichten sind, die entschlüsselt werden müssen". Daneben gibt es Tipps und Ratschläge für Eltern. So lernt man die Wirkung der "bedingungslosen Liebe" kennen: Man liebt sein Kind für das, was es ist, und nicht für das, was es tut. Die Idee, dass man "Kindern Mittel, nicht Grenzen aufzeigen muss", wie Isabelle Filliozat, eine bekannte Vertreterin der positiven Erziehung, erklärt, ist in Frankreich schon eine kleine Revolution. Das Image der Erziehung "à la française" vor allem im Ausland ist schließlich ein ganz anderes: Man bewundert die höflichen kleinen Franzosen, die ihre Anstandsregeln wie das Einmaleins beherrschen. Dieses Ideal preist auch die amerikanische Journalistin Pamela Druckerman in ihrem Buch Warum französische Kinder keine Nervensägen sind: Erziehungsgeheimnisse aus Paris (Mosaik Verlag, 2013). Während deutsche Medien sich momentan über überbesorgte "Helikoptereltern" lustig machen, wird in Frankreich jedes Jahr mit schöner Regelmäßigkeit über die Abschaffung der "fessée" debattiert. Vor Kurzem hat der Europarat das Land dazu ermahnt, ein Gesetz gegen Prügelstrafen einzuführen - bisher wird den Eltern noch ein "Recht auf Strafmaßnahmen" zugestanden.

Erziehungsbücher sind voll im Trend
   
Trotzdem liegt die positive Erziehung in Frankreich voll im Trend. Das zeigt nicht zuletzt der Erfolg von Erziehungsratgebern wie Le meilleur pour mon enfant der Journalistin Guillemette Faure (10 000 verkaufte Exemplare), oder Le cerveau de votre enfant von Daniel J. Siegel und Tina Paine-Bryson (12 000 verkaufte Exemplare). Das Konzept ist für französische Verlagshäuser eine echte Geldquelle geworden. Der Verlag Les Arènes, der dem Thema eine neue Bücherreihe widmet, hat eine feines Gespür für derartige Trends: "Es ist mehr Wohlwollen nötig, damit das Kind nicht länger als kleines Wesen betrachtet wird, das dressiert werden muss", erklärt Catherine Meyer, Lektorin bei Les Arènes. "Aber unser Verlag hat das Thema nicht erfunden. Seit mehreren Jahren gibt es Autoren, Mütter, Lehrer, die zu Verfechtern der positiven Erziehung geworden sind. Wir haben einfach gespürt, dass ein großer Wandel im Gange ist."
 
Elternschaft 2.0
 
Messbar wird der Erfolg der Erziehungsbewegung auch anhand der Klickzahlen von Blogs, YouTube-Channels und Facebook-Seiten, die sich mit dem Thema befassen - die Seite "positive Elternschaft" zählt knapp 17 000 Fans. Über soziale Netzwerke und Websites verbreitet sich ein Informationsfluss, dessen verschiedene Zuflüsse nicht immer leicht zu verorten sind. Die positive Elternschaft, die ursprünglich aus den USA kommt, bezieht sich in Frankreich häufig auf die Schriften der Kinderärztin Françoise Dolto oder auf die Montessoripädagogik. Von Freud will aber keiner etwas wissen: Dieser verkörpere "eine Vision der Entwicklung des Kindes aus einem anderen Jahrhundert", meint Catherine Meyer. Näher stehen die Anhänger der positiven Erziehung dem amerikanischen Kinderpsychiater John Bowlby und seiner Bindungstheorie und berufen sich auf die neuesten Forschungsergebnisse der Neurobiologen, die das empirische Wissen bestätigen: "Wir wissen heute, dass, wenn ein Kind verletzt wird, alle Lernzentren im Gehirn blockiert werden", erklärt Dumonteil-Kremer. Insgesamt ist die positive Erziehung sehr auf die Entwicklung des Individuums bedacht, sie appelliert an Weitsichtigkeit, Erfahrung und Gefühle der Eltern, um Alternativen zu einer autoritären Erziehung aufzuzeigen. Dumonteil-Kremer, die regelmäßig Konferenzen zum Thema organisiert, ist überzeugt: "Was Eltern jetzt tun, ist von großer Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft!" Diesen Standpunkt vertraten auch die Autoren eines Aufrufs, der Mitte Mai in der Tageszeitung Libération veröffentlicht wurde und von mehreren Forschern und Gesundheitswissenschaftlern unterzeichnet wurde. Der Titel? "Die Abschaffung der Prügelstrafe ist ein Schritt hin zu mehr Demokratie".
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Dieser Text stammt aus der Académie de Berlin.
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