Von Sylvia Schreiber

 

Chinesische Touristenpulks auf der Budaer Burg, Ramschwarenhändler am Tigermarkt in Budapests Chinatown. Wer dieser Tage durch die ungarische Donaumetropole schlendert, wird es kaum übersehen: Die Chinesen sind da. Doch viel mehr noch als die fernöstlichen Touristenscharen fallen schicke Asiatinnen und Asiaten in den Blick, die in italienischen Designer-Kleidern und mit französischen Hermès-Taschen die noble Gastronomie frequentieren.

 

Zu Tausenden sind neureiche Chinesen in Budapest heimisch geworden, seit sie sich über eine ungarische Staatsanleihe zum Preis von rund 250 000 Dollar ein Dauer-Visum mit Besuchsgarantie im Schengen-Raum erwerben konnten. Mit dem „Hungarian Investment Immigration Program“ lockte der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán zwischen 2013 und 2017 die neuen Einwohner aus dem Reich der Mitte nach Europa – und baute darauf einen Teil seiner Strategie auf: Orbán will Budapest zur Logistikzentrale für den Chinahandel machen.

 

Kredite mit einem Volumen von drei Milliarden Euro hat China allein den Ungarn für künftige Infrastrukturprojekte versprochen. 13 Milliarden sollen es insgesamt auf dem Balkan sein, darunter Schnellbahntrassen zwischen Budapest, Belgrad und Mazedonien, aber auch zum griechischen Hafen von Piräus, den die chinesische COSCO nach der Finanzkrise erwarb. Erst Ende letzten Jahres wurde eine neue Flugfrachtlinie zwischen Schanghai und Budapest eröffnet, außerdem gibt es täglich Passagierflüge zwischen Peking und Budapest.

 

Der Autokrat Orbán, den die Chinesen kaum mit Fragen nach Rechtsstaatlichkeit behelligen, setzt auf die Provokation der EU: „China ist bereit, Projekte zu finanzieren, für die europäische Institutionen kein Geld geben wollen.“

 

Dabei ist Ungarn nur ein Puzzleteil in der groß angelegten Chinastrategie, die 2013 unter dem Namen „Neue Seidenstraße“ lanciert wurde. Anknüpfend an den Mythos des jahrtausendealten Handelsweges, auf dem der Venezianer Marco Polo Gewürze und Porzellan expedierte, über den orientalische Karawanen, Prediger und Dschingis Khan verkehrten, will sich das Reich der Mitte mit Handels- und Verkehrskorridoren ein Netz des transkontinentalen Einflusses schaffen – Globalisierung à la chinoise, von Schanghai direkt nach Lyon und Rotterdam.

 

Kostengünstig produziert und billig transportiert, mit dem Balkan als Sprungbrett, sollen Güter auf kürzesten Wegen in die westlichen Zentren gelangen, sodass sich die Produktion dort nicht mehr lohnt. Der Hafen von Piräus dient als strategisches Tor zu Europa und Nordafrika, aber genauso eine über 10 000 Kilometer lange Eisenbahnlinie von Schanghai zum Hafen von Duisburg. Der „Duisport“ setzt stark auf Kooperation mit China, genauso wie die Deutsche-Post-Tochter DHL, die auf den Schnellwegen zu Land und zu Luft den Seerouten überlegen ist.

 

Rohstoffquellen in Afrika sichern sich Chinesen schon seit Längerem, beispielsweise über Verladestützpunkte in Dschibuti, genauso wie Billiglohn- und Energiestandorte im Mittleren Osten unter Pekinger Regie in Pakistan oder Kasachstan. „One Belt, One Road“ – „Eine Zone, eine Straße“, so taufte der allmächtige Staatspräsident Xi Jinping den großen Infrastrukturplan, verkauft wird er in den Medien als „Neue Seidenstraße“. Geplant sind kreditfinanzierte Entwicklungsprojekte in 72 Ländern, dazu jede Menge Firmenaufkäufe. Munter kopiert China die EU-Binnenmarktstrategie: Mit staatlichen Investitionen in die Infrastruktur zurückgebliebener Regionen eine Basis für den Handel mit den reichen Zonen schaffen. „Win-win“, also gegenseitiger Nutzen, wurde dabei zur chinesischen Lieblingsformel.

 

Doch warnende Stimmen mehren sich. Hinter den „schönen Worten von Kooperation und Zusammenarbeit, die Menschen zwischen Afro-Eurasien verbinden soll“, so der US-Historiker James A. Millward von der Georgetown University, „ist strategisches Vordringen geplant“. Der Schweizer Volkswirt Thomas Straubhaar, Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Uni Hamburg, sieht China auf dem langen Marsch an die Spitze der Weltwirtschaft, „wo es nach dem Selbstverständnis Pekings auch hingehört“. Denn bis vor 200 Jahren sei das Reich der Mitte der übrigen Welt weit voraus gewesen.

 

Durch die Kombination der Schaffung und Aneignung von Infrastruktur und einer Strategie des Aufkaufs modernster Schlüsseltechnologien böte sich für die Chinesen, so Straubhaars These, die Chance zu einem epochalen Wettlauf mit den USA: „Der Kapitalist, Donald Trump, folgt der Strategie des ‚America first‘. Der Kommunist, Xi Jinping, folgt der Doktrin ‚made in China 2025‘. Er will mit allen Mitteln, zu denen auch Ideenklau, Industriespionage, Druck und Erpressung gehören, vom Ausland unabhängig werden.“ Indirekt bestätigt dies Chinas Botschafter in Deutschland, Shi Mingde: „Der Westen muss akzeptieren, dass er nicht mehr alleine bestimmen kann.“

 

Und Europa steht mittendrin. Die chinesische Strategie und Durchsetzungsmacht des Einparteienstaates, dessen Präsidentschaft sich Xi gerade auf Lebenszeit sicherte, trifft auf eine vielstimmige EU, die sich, strategielos, nicht einmal auf einen einheitlichen Investitionsschutz gegen feindliche Übernahmen stützen kann. Stattdessen haben sich einzelne EU-Länder auf bilaterale Regelungen eingelassen – und sich damit dem Spiel des chinesischen Drachens ausgesetzt.

 

Einerseits ist die EU auf Peking im Handelsstreit mit den USA angewiesen, wie sich bei der Chinareise der deutschen Bundeskanzlerin Merkel im Mai zeigte. Ausgerechnet die kommunistische Volksrepublik diente sich dort als Hüterin des kapitalistischen Freihandels an. Andererseits muss „Tante Mo“, so wird die Kanzlerin in China genannt, auf Druck der chinakritisch gewordenen deutschen Wirtschaft, auf „Reziprozität“ bei Firmen- und Handelspartnerschaften pochen, mithin die oftmals verwehrten gleichen Investitionschancen anmahnen. Immerhin einigte sich die EU nun auf gemeinsame striktere Checks der geplanten Firmenaufkäufe durch China.

 

Auch Frankreich hat eine Weile gebraucht, bis es der Dimension der chinesischen Strategie gewahr wurde: „Erst seitdem ein Containerzug aus Wuhan im Bahnhof von Lyon ankam, ist das Interesse an der neuen Seidenstraße gewachsen“, schreibt Les Echos. Staatspräsident Macron strich bei seinem Januar-Besuch in China das Positive der vielen Initiativen heraus, mahnte jedoch auch zu mehr Öffnung. Macron, dessen Namen im Chinesischen als „Ma Ke Long“ umschrieben wird, was „das Pferd, das den Drachen bändigt“ heißt, wurde deutlich: „Ich sage Ihnen einfach, dass per definitionem diese Straßen nur gemeinsam verwirklicht werden können und nicht als Einbahnstraße.“

 

Zur Wachsamkeit haben sowohl Paris als auch Berlin reichlich Grund. Immer wieder berichten Firmen mit chinesischen Partnern von Verletzungen der Patentrechte oder vom Klau der Kundendateien. Die strategischen Ziele chinesischer Shoppingtouren sind offensichtlich: Während in Frankreich vorwiegend Immobilien und Weingüter auf der Einkaufsliste stehen, sind es in Deutschland die Technologiefirmen. Nachdem Chinesen inzwischen gut ein Dutzend prestigeträchtiger Grand-Cru-Domänen erwarben, wurde im vergangenen Herbst ein Versuch des chinesischen Onlinehändlers Jack Ma (Alibaba) zur Übernahme des burgundischen Weinguts Clos de Tart verhindert. Der Milliardär Pinault schnappte Clos de Tart dem Alibaba-Händler vor der Nase weg. Zuvor hatte jedoch das Finanzministerium „Bercy“ bei der Familie Mommessin, den Altbesitzern, interveniert.

 

In Deutschland, dessen drittgrößter Exportpartner nach den USA und Frankreich das Reich der Mitte ist, kauften Chinesen im vergangenen Jahr 54 Firmen auf (in Frankreich 22). Im Fokus: „Hidden Champions“, mittelständische, patentreiche Firmen aus der Maschinen- und Autobranche. Für Aufregung sorgte der Einstieg beim Robotik-Unternehmen KUKA oder auch das Investment beim Autokonzern Daimler. Berlin will jetzt genauer prüfen und den Kauf auch mal verbieten, wenn es um technologisch Sensibles geht.

 

Auch die chinesische Praxis, staatlich subventionierte Dumpingware in die EU zu exportieren, was etwa zum Ruin der deutschen Solarindustrie führte und Subventionen für erneuerbare Energien in dreistelliger Millionenhöhe nach China umleitete, soll bekämpft werden. Deutsche Behörden wollen dem französischen Beispiel folgen und beim Bau von Solarparks etwa die Umweltstandards gegenüber den Dumpingpreisen stärker gewichten. Damit soll Billigkonkurrenz ferngehalten werden. Denn immer deutlicher werde, so ein deutscher Fabrikant, dass Chinesen das „Win-win“, die Regel vom wechselseitigen Nutzen, häufig anders interpretieren als wir. „Win-win“ heiße in Fernost: „China gewinnt zweimal.“

Par Redaktion ParisBerlin le 10 août 2018