Von Birgit Holzer

 

Einmal pro Woche gibt sich Édouard Philippe einer Übung hin, die ihm zunächst wenig zu liegen schien: Er setzt sich vor eine Kamera in seinem Amtssitz Hôtel Matignon und beantwortet Fragen von Franzosen, die diese ihm vorab zuschicken – und die sein Team ausgewählt hat. Meist haben sie einen Bezug zu aktuellen Ereignissen und Philippe beantwortet sie stets ruhig, sachlich, seriös. Ohne große Umschweife – und ohne Showmaster-Qualitäten. Das Video wird dann in die sozialen Netzwerke gestellt. Bürgernähe soll so geschaffen werden, der Premierminister möchte so die Politik der Regierung erklären, für die oft allein der Präsident verantwortlich gemacht wird.

 

Fühlte sich der 46-Jährige anfangs erkennbar unwohl vor der Linse, so gewinnt er mit der Zeit an Sicherheit, ohne die für ihn so typische diskrete Höflichkeit abzulegen. Selbst dem Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon gelang es bei einer Fernsehdebatte nicht, den Premier aus der Reserve zu locken: Beobachter notierten danach fast enttäuscht, es habe sich statt um eine hitzige Kontroverse um einen „freundlichen Austausch“ gehandelt. Ganz Philippes Stil entsprechend.

 

Seine Ernennung zum Regierungschef durch Emmanuel Macron nach dessen Wahl im Mai überraschte manche, zumal sich der Präsident zuvor dafür ausgesprochen hatte, dieses Schlüsselamt mit einer Frau zu besetzen. Zugleich landete er einen geschickten Coup, kam Édouard Philippe doch aus dem Lager der konservativen Republikaner, die einige Monate später von dessen Austritt „Notiz nahmen“, ohne diesen formell zu vollziehen. Vorerst werde er parteilos bleiben, ließ er wissen. Den Vorwurf des „Verrats“ konterte der 47-Jährige mit der Versicherung, er wolle konstruktiv mit Macron zusammenarbeiten, bleibe aber seinen konservativen Werten treu. Der frühere Bürgermeister der Hafenstadt Le Havre galt als Hoffnungsträger seiner Partei, war ein Vertrauter von Ex-Premierminister Alain Juppé, als dessen Sprecher er bei den Vorwahlen der Republikaner fungierte, und gehörte zum gemäßigten Mitte-Flügel. Als ein der Öffentlichkeit wenig bekannter Politiker passte er zudem zu Macrons Losung der politischen Erneuerung und Überwindung ideologischer Grenzen.

 

Doch auch nach einigen Monaten wissen viele Franzosen immer noch nicht, wer eigentlich dieser Mann ist, der ihrer Regierung vorsteht – Facebook-Videos und regelmäßige Interviews hin oder her. Bei einer Umfrage Ende September wussten mehr als ein Drittel der Befragten Édouard Philippes exakten Namen nicht zu nennen. Doch diejenigen, die ihn kannten, bewerteten ihn überwiegend positiv, befanden ihn als dynamisch, sympathisch und kompetent.

 

© Liewig Pool/SIPA

 

Aber ließ ihm Macron Platz? Es wurde als Signal gedeutet, dass der Staatschef nur einen Tag vor Philippes großer Regierungserklärung Anfang Juli, bei der dieser die zahlreichen geplanten Vorhaben für die nächsten Jahre skizzierte, selbst eine Rede vor den Mitgliedern beider Parlamentskammern, dem Kongress, in Versailles hielt. Damit, so wurde moniert, stahl der Präsident seinem Premier die Schau – wohl um zu zeigen, wer das Sagen hat.

 

Philippe selbst spricht hingegen von einer komplementären Rollenaufteilung und wies in einem Fernsehinterview jede Rivalität, aber auch die Kritik an seinem vermeintlich zu zurückhaltenden Auftreten, zurück: Worauf es in seiner Funktion ankomme? „Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Mir geht es nicht darum, spektakulär zu sein, sondern unser Land voranzubringen.“ Er habe zu viele Politikerkollegen gekannt, die sich mehr für ihre Umfragewerte interessiert haben als für ihre eigentliche Aufgabe. Das sei bei ihm nicht der Fall. Ein zäher Verhandler auf der Suche nach Kompromissen sei er, heißt es von Philippe.

 

Er gehört dabei neben Philippe Étienne, dem früheren französischen Botschafter in Deutschland und aktuellen diplomatischen Berater Macrons, und dem ebenfalls germanophilen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire zu jenen Persönlichkeiten an einflussreichen Stellen, die den deutschen Nachbarn bestens kennen und dessen Sprache einwandfrei sprechen. Denn Édouard Philippe, der im normannischen Rouen geboren wurde und aufwuchs, verbrachte das Ende seiner Schulzeit in Bonn, wo sein Vater Direktor des französischen Gymnasiums war. Dort fiel er als sehr guter Schüler auf und machte sein Abitur.

 

Sein anschließender Weg weist Parallelen mit jenem von Emmanuel Macron auf. Beide durchliefen die bei französischen Spitzenpolitikern klassische Elitenausbildung, haben aber auch zeitweise die Privatwirtschaft kennengelernt. Wie der 39-jährige Präsident, der rund drei Jahre lang Mitglied der Sozialistischen Partei war, näherte sich auch Édouard Philippe zunächst der Linken an und unterstützte als Student in den 1990er-Jahren den früheren Premierminister Michel Rocard und dessen proeuropäisch-sozialdemokratische Linie. Erst später verortete Philippe seine politische Heimat bei den Konservativen. Die Bedeutung von Politik, wenn auch unterschiedlicher Richtungen, hat Familientradition, gehörte einer seiner Urgroßväter doch der Kommunistischen Partei an. Édouard Philippe durchlief nicht nur die Kaderschmiede ENA, sondern auch Sciences Po, wo er seine Frau Édith Chabre kennenlernte, mit der er drei Kinder hat. Heute leitet Chabre, die wie ihr Mann als arbeitsam und diskret gilt, die Pariser Elitehochschule. Er selbst begann seine Karriere, wie viele ENA-Abgänger, im öffentlichen Dienst: Im Conseil d’État, dem obersten französischen Verwaltungsgericht, spezialisierte er sich auf Rechtsfragen. Ab 2004 arbeitete er als Anwalt in der US-amerikanischen Kanzlei Debevoise & Plimpton LLP, bis er einige Jahre später eine Leitungsfunktion beim französischen Industriekonzern Areva einnahm. Kritiker verdächtigen ihn aufgrund dieser Vergangenheit, bei der er sich um die Lobbyarbeit der Nuklearindustrie bei Parlamentariern gekümmert hat, dem Atomstrom stark zugetan und wenig offen für erneuerbare Energien zu sein.

 

© François Mori

 

Parallel zu seinen beruflichen Aktivitäten engagierte sich Édouard Philippe politisch, so arbeitete er ab 2001 mit dem damaligen Bürgermeister von Le Havre, Antoine Rufenacht, zusammen und war dessen Stellvertreter. 2010 wurde er dann selbst zum Stadtoberhaupt gewählt, neben seinem Mandat als Abgeordneter des Conseil général, also auf der Département-Ebene, und später auch als Parlamentarier in der Nationalversammlung. Auch an der Neugründung der konservativen Partei als UMP im Jahr 2002 wirkte er an der Seite Alain Juppés mit.

 

Sein Privatleben schützt Édouard Philippe sorgfältig; bekannt ist, dass er gerne boxt und Literatur liebt – sein Essay „Männer, die lesen“ ist eine Hommage an seine Lieblingsbücher. Gemeinsam mit seinem Berater Gilles Boyer hat er zudem zwei politische Fiktionen verfasst: Die Stunde der Wahrheit und Im Schatten. Aus diesem ist er herausgetreten – und Zeit, zur Feder zu greifen, dürfte ihm derzeit kaum mehr bleiben.

Par Redaktion ParisBerlin le 7 mars 2018