Der lange Schatten der polnischen Vergangenheit
Die Wogen im kollektiven Gedächtnis zu glätten ist nach wie vor eine Hauptaufgabe der polnischen Demokratie, die noch immer mit ihrer kommunistischen Vergangenheit...
Musterschüler Warschau?
Publié initialement le lundi 18 août 2014
Deutschland, Frankreich, Polen - ein Überblick.Wider den Bevölkerungsschwund Wenn man dem CIA World Factbook Glauben schenkt, hat eine Frau in Polen im Durchschnitt 1,32 Kinder. Die Geburtenrate ist somit noch niedriger als in Deutschland. Oppositionsführer Jaros?aw Kaczy?ski, selbst kinderlos, alarmiert: "Wir sind weltweit auf Platz 212!" Wenn es so weitergeht, wird die Bevölkerungszahl von derzeit mehr als 38 Millionen auf 30,6 Millionen im Jahr 2060 sinken, so eine Prognose der Staatlichen Sozialversicherungsanstalt (ZUS). "Das wäre so, als ob Warschau, Krakau, ?ód?, Wroc?aw, Pozna?, Gdansk, Szczecin, Bydgoszcz, Lublin, Katowice und die Region Ermeland-Masuren auf einmal menschenleer seien", schreibt die konservative Zeitschrift Do Rzeczy und fragt: "Wann kommt der letzte Pole zur Welt?" Sollte die Tendenz anhalten, hätte das fatale Auswirkungen auf Polens Wirtschaftswachstum und sein Sozialsystem, zumal seit dem EU-Beitritt 2004 100 000 Jugendliche das Land verlassen haben. Vor einem Jahr appellierte Staatspräsident Bronis?aw Komorowski an die Bevölkerung: "Polinnen und Polen, es lohnt sich, Kinder zu haben!" Der Aufruf wurde im Boulevardblatt Fakt veröffentlicht. Doch die erwünschte Wirkung blieb aus. Von denen, die keine oder keine weiteren Kinder haben möchten, nennen 37,2 % finanzielle Gründe. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Homo Homini, die im Sommer 2013 im Auftrag des Webportals Interia.pl durchgeführt wurde. Bei fehlenden Kita-Plätzen könnten sich viele kein Kindermädchen leisten. Experten bezweifeln jedoch, dass es nur daran liegt. Das Präsidentenpaar Komorowski hat fünf Kinder, die zwischen 1979 und 1989 geboren wurden. Damals verfügten die Polen über weniger Geld als heute, doch das Sicherheitsgefühl war höher. Angesichts einer Arbeitslosenquote von 13 % im April 2014 fürchten viele, selbst bald ihren Job zu verlieren. Zugleich steigen die Erwartungen. Wirklich gute Eltern, wird oft behauptet, schickten ihre Kinder zum privaten Sprachunterricht und in die Tanzschule. Besser also, man verzichte gleich auf Nachwuchs. Ein Arbeitsmarkt der "Müllverträge" 72 % der Polen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren sind erwerbstätig. Allerdings verfügen nicht einmal 29 % über einen unbefristeten Arbeitsvertrag, so eine aktuelle Umfrage des Marktforschungsinstituts Millward Brown im Auftrag des polnischen Landesschuldenregisters (KRD). Die meisten Befragten geben an, dass sie im Rahmen von Werk- und Dienstleistungsverträgen, befristeten Arbeitsverträgen oder als Scheinselbstständige beschäftigt sind. Letztere Beschäftigungsformen, insbesondere aber Werk- und Dienstleistungsverträge, werden in Polen umgangssprachlich auch als "Müllverträge" bezeichnet. Denn obwohl man oft genau das gleiche Arbeitsvolumen wie die Kollegen mit einem festen Arbeitsvertrag bewältigt, muss man viele Nachteile in Kauf nehmen. Kein Wunder, dass sich die Betroffenen oft wie Mitarbeiter zweiter Klasse fühlen. Dieses Schicksal teilt auch Monika Widomska (Name von der Redaktion geändert). Die 29-Jährige absolvierte ein Studium im Fach Internationale Beziehungen an der Universität Warschau, absolvierte die empfohlenen Auslandspraktika und war bei mehreren NGOs tätig. Seit einigen Jahren arbeitet sie als Journalistin, unter anderem für eine Warschauer Tageszeitung. Einmal in der Woche muss Widomska ins Büro, an den anderen Tagen arbeitet sie von zu Hause aus. Angestellt ist sie aber nur auf Honorarbasis. Vor Kurzem erhielt sie von der Chefredaktion ein neues Angebot: Arbeit im Rahmen eines Werkvertrages, bis zu sechs Tage pro Woche im Büro, dabei oft Wochenenddienst oder Spätschicht bis 23 Uhr. Widomska zögerte, denn sie weiß, was ein Werkvertrag bedeutet: kein Anspruch auf bezahlten Urlaub und kein Kündigungsschutz, auch im Falle einer Schwangerschaft. Das Geld, das ihr die Zeitung bietet, ist auch nicht gerade verlockend: 2000 PLN (485 Euro) brutto im Monat sind nicht viel mehr als der gesetzliche Mindestlohn vorsieht. Dafür kann man gerade einmal eine kleine Wohnung mieten, für andere Ausgaben bleibt nichts übrig. Im Fall von Dienstleistungsverträgen muss der Arbeitgeber wenigstens Beiträge für die Kranken- und die Rentenversicherung zahlen, im Falle von Werkverträgen ist er davon befreit. Wer aber jahrelang keine Rentenbeiträge zahlt, dem droht später die Altersarmut. Premierminister Donald Tusk will deswegen künftig auch die prekären Werkverträge mit einer Sozialabgabepflicht belegen. Dann aber hätte Widomska netto noch weniger in der Tasche. An eine sichere Rente glaubt sie sowieso nicht. Die Umwelt oder den Bergbau schützen? Während Berlin den Atomausstieg plant, setzt Warschau auf Kernenergie. Ende Januar 2014 verabschiedete die Regierung Tusk ein Programm, das erstmalig den Bau von zwei Atomkraftwerken vorsieht. Die Kosten dieses Unterfangens werden auf etwa 12,5 Milliarden Euro geschätzt. Sauber, sicher und billig sei die Atomenergie. Sie führe zu mehr Unabhängigkeit von Russland und helfe, die Klimaziele der EU zu erfüllen, argumentieren die Regierung und die meisten Oppositionsparteien. "Atomkraft? Ja, bitte!", sagt auch jeder zweite Pole, nur 42 % sprechen sich dagegen aus. Das geht aus einer Umfrage hervor, die Ende 2013 von Millward Brown im Auftrag des Wirtschaftsministeriums durchgeführt wurde. Derzeit bezieht Polen seinen Strom noch zu 83 % von Kohlekraftwerken. Etwa 100 000 Menschen arbeiten derzeit im Bergbau. Die Branchenzeitschrift Energetyka Cieplna i Zawodowa prognostiziert, dass im Jahr 2030 der Strommix aus 56,8 % Kohle, 18,8 % erneuerbaren Energien und 15,7 % Atomkraft bestehen wird. Mehr Ökoenergie würde allerdings zu Schließung von Bergwerken und damit zu großen Protesten führen. Kurz vor dem Wahljahr 2015 wünscht sich die Regierung unter Donald Tusk aber vor allem Ruhe. Bergleute gelten in Polen als eine gut organisierte Berufsgruppe, die im Kampf um ihre Privilegien auf die Straße geht - und das mit Erfolg. Im vergangenen Jahr wurde im Bergbau eine Rente von durchschnittlich 3770 PLN (915 Euro) pro Monat gezahlt. Damit ist sie fast doppelt so hoch wie die der Durchschnittsbeschäftigten. Den polnischen Staat kostet das jährlich 6,5 Milliarden PLN (1,5 Milliarden Euro). Kohle garantiere mehr Energiesicherheit, so Premierminister Donald Tusk - in Zeiten der Ukraine-Krise ein griffiges Argument. Derzeit deckt das Land fast 80 % seines Gasbedarfs durch Importe aus Russland. In ?winouj?cie aber entsteht derzeit ein Flüssiggasterminal, das auch Importe aus Katar ermöglichen wird. Die von vielen erhoffte Schiefergasrevolution bleibt hingegen aus. Es habe sich gezeigt, dass der Abbau in Polen wesentlich schwieriger sei als bisher angenommen, so Tomasz Chmal, Energieexperte am Sobieski Institut in der Tageszeitung Rzeczpospolita. Außerdem schrecke die mangelnde Rechtssicherheit viele Investoren ab. Auch der Klimaschutz gilt in Polen als Wachstumsbremse. Jerzy Buzek, der ehemalige Präsident des Europaparlaments, spricht gar von "übertriebenen EU-Ambitionen". In Sachen Klimaziele ist Warschau immer häufiger auf Kollisionskurs mit Brüssel. "Polen gilt als Bremse einer ambitionierteren EU-Klimapolitik," meint auch die FAZ. Laut Eurostat liegt Polen im Jahr 2013 mit 290 Millionen Tonnen CO2-Emissionen auf Platz fünf in der EU, weit hinter Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien. Allerdings ist Polens Wirtschaft auch deutlich kleiner als die der genannten Länder. Die Bevölkerung aber scheint der Klimaschutz kaum zu bewegen. Bei der Europawahl 2014 erhielten die polnischen Grünen nur magere 0,32 % der Wählerstimmen.
Plus d'actualités
19/02/2015 | 10:21
Der lange Schatten der polnischen Vergangenheit
Die Wogen im kollektiven Gedächtnis zu glätten ist nach wie vor eine Hauptaufgabe der polnischen Demokratie, die noch immer mit ihrer kommunistischen Vergangenheit...
19/07/2014 | 10:03
"Polen ist ein vollwertiger Bündnispartner, der Europa voranbringt"
Jan Tombinski, gegenwärtig Botschafter der EU in Kiew, spricht im Interview über den politischen Einfluss des Weimarer Dreiecks und den Willen Polens,...
22/01/2016 | 15:59
Bericht aus Polen: Die Regierung kann das Engagement der EU für eigene Zwecke nutzen
Die 25-jährige Polin Hanna Pienczykowska macht sich große Sorgen über die Zukunft ihres Landes. Sie fragt sich insbesondere, wohin Polen unter der Regierung der...
19/11/2014 | 10:54
Von Kartoffelaffären und Diplomatietrotteln
Ein Herz und eine Seele: Deutsche und polnische Politiker betonen heute immer wieder, wie hervorragend sie zusammenarbeiten. Doch zu Zeiten von Gerhard Schröder...
19/02/2015 | 10:36
Die gelungene Integration eines großen Mitgliedsstaates
Alle sind sich einig, dass der Beitritt Polens zur Europäischen Union einen großen wirtschaftlichen und politischen Erfolg darstellt. Deutschland hat eine wesentliche...
|
Espace Vidéo
L'EUROPE EN QUELQUES MOTS Coming soon : le premier observatoire digital des pôles d'excellences en Europe
Dans l'agenda
|